In diesem Jahr ist der 9. November ein Sonntag. Endlich kann ich den Tag in Ruhe beginnen und ihn würdigen. Ein Tag voller ambivalenten Gedenkens – 1938 und 1989.
Mein Bedürfnis nach Geborgenheit ist groß. Mir ist die Welt zu laut geworden. „Die Zeit ist kaputt“, hatte Erich Kästner gesagt.
Die Zeit ist kaputt.
Unser Kanzler kann zugleich in einer Synagoge weinen und Schutzbefohlene nach Syrien ausweisen.
Die Zeit ist kaputt.
Reiche werden reicher und Arme ärmer.
Reichtum wird nicht erarbeitet, sondern vererbt – Armut auch.
Die Zeit ist kaputt.
Es wird viel reagiert und wenig agiert.
Falschnachrichten treiben durch unsere Kanäle und wenn dann journalistisch die Fakten geliefert werden, interessiert es keinen mehr.
Die Zeit ist kaputt.
Es wird sich mehr empört, als gehandelt.
Mein Bedürfnis nach Geborgenheit ist groß und ich ziehe mich zurück an meinen kleinen Tisch neben dem Arbeitsplatz mit den letzten Rosen aus dem Garten, Muttis Sammeltasse und dem grünen Kerzenhalter aus Kopenhagen. Hier lese ich.
Ein Grab im Himmel
Heute lese ich Paul Celans Todesfuge, denn es ist der 9. November.
Dein goldenes Haar Margarete
Dein aschenes Haar Sulamith wir schaufeln ein Grab
in den Lüften da liegt man nicht eng
Aber ich lese auch ein Liebesgedicht von ihm, denn es ist der 9. November.
Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt
wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehen.
Wir sind Freunde.
09.11.1989
Den Mauerfall habe ich als Jugendliche erlebt. Gebannt saßen wir in Frankfurt (Oder) vor dem Fernseher. Konnte das alles wahr sein? Jetzt darf ich meine Oma in Ludwigshafen sehen, meine Patentante in Stuttgart treffen und endlich mit meiner Cousine spielen? Ihre Kleidung trage ich schon seit vielen Jahren. Mit jedem Westpaket (wenn es denn ankam) konnte ich sie kennenlernen – ein Blumenrock, ein Norwegenpullover, ein Micky Maus Heft. Alles war wahr!
Zwei Wochen später fuhren wir im völlig überfüllten Zug nach West-Berlin. Es war überwältigend. Noch immer bin ich gerührt, wenn ich die Fernsehaufnahmen sehe: Eine friedliche Revolution. Gebete und Lieder. Zusammenhalt und die tiefe Sehnsucht nach Freiheit. Familie Mensch kann so viel erreichen.
Der 9. November zeigt mir, wie das Beste und Schlimmste im menschlichen Herz ruhen. Vielleicht würde es uns im Miteinander helfen, wenn uns bewusst wäre, dass wir unfassbar Gutes, Lebendiges und Zukunftsstarkes schaffen können, aber wir zugleich anfällig sind für das unfassbar Gierige, Gemeine und Selbstbezogene. Das Böse überfällt uns nicht, es hat Komplizen. Das Gute überkommt uns auch nicht einfach, es hat Verbündete.
Heute lese ich Paul Celan, dass er zugleich über das Schrecklichste und Schönste schreiben konnte, mahnt und ermutigt mich, warnt und inspiriert mich.